Fragen von Teilnehmern an MC Brigitte während des Retreats vom 01. bis 07. November 2022 im Sorn Thawee Meditationszentrum, Thailand. Teil 1

Welche Bücher sollte ich während eines Retreats lesen?

MC Brigitte: Während eines Retreat sollte man versuchen, nur Bücher zu lesen, die sich mit der buddhistischen Lehre beschäftigen. Besser wäre es jedoch, erst nach einem Retreat zu lesen, da die Möglichkeit besteht, dass im Retreat Gelesenes manipulativ wirken kann, indem man liest, was in der Meditation alles passieren kann und dann während der eigenen Meditation darauf wartet. Auf diese Weise ist keine reine Erfahrung mehr möglich.

Was ich empfehlen kann, ist das Buch meines Lehrers Phra Acharn Thawee: „Selber Klarblick üben“. Das Buch erklärt den gesamten Prozess, den der Geist durchläuft, wenn man Vipassana praktiziert.

Pariyati, patipatti und pativedha

Buddha erklärte, dass es drei Dinge sind, die wir tun sollten. An erster Stelle steht das Studium der Theorie des Buddhismus (pariyati), wie sie in den Suttas erklärt wird. Das zweite ist die Umsetzung der Theorie in die Praxis, die Manifestation (patipatti), und das dritte ist die Verwirklichung des Wissens (pativedha). Verwirklichung bedeutet, dass wir das Wissen, welches wir durch Bücher oder durch Lehrer erworben haben, zusammen mit der Praxis verwirklichen und nicht nur im Kopf zu verstehen.

Einerseits kann es also passieren, dass wenn man zu viel liest und die wirkliche Erfahrung verliert, weil man darauf wartet, wie etwas, über das man gelesen hat, sein sollte. Andererseits kann es für jemanden, der einfach nur praktiziert und kein theoretisches Wissen oder einen Lehrer besitzt auch problematisch werden, weil es dann passieren kann, dass man den falschen Weg einschlägt.

Nimm eine Fackel mit

Du kannst dies mit dem Weg vergleichen, der von der Meditationshalle zurück zu deinem Zimmer führt. Ist es dunkel und es gibt kein Licht, fällst du vielleicht in ein Loch. Daher ist es gut, ein Licht dabei zu haben. Pariyati, dass direkte Wissen, ist wie eine Fackel. Aber man muss auch Gehen. Das ist patipatti, die Meditationspraxis. Nur wenn beides vorhanden ist, wirst du auf direktem Weg zu deiner Unterkunft gelangen, ohne in ein Loch zu fallen oder zu stolpern.

Der historische Buddha hatte keine Fackel, da er weder einen Lehrer noch die buddhistischen Lehren besaß. Ein Buddha oder Bodhisattva muss daher einen sehr langen Weg zurücklegen, um die richtige Richtung zu finden. Prinz Siddhartha ließ sein Luxusleben im Palast hinter sich, als er das Leiden in der Welt durch Alter, Krankheit und Tod sah. Er versuchte, Lehrer zu finden, aber alle Lehrer konnten ihm nur das beibringen, was sie zu diesem Zeitpunkt wussten und dies war nicht genug, um das Leiden zu überkommen. Sein erster Lehrer lehrte ihm die ersten vier jhanas, Vertiefungen. Der nächste Lehrer lehrte ihn die höheren Stufen der jhanas. Auf dieser Ebene gibt es keinen Körper mehr, alles ist Geist.

Doch Siddhartha erkannte, dass selbst nach dem Erreichen der höchsten Stufe der jhanas noch Leiden vorhanden ist, wenn man aus der Vertiefung herauskommt. Es ist, als würde man einen Stein auf das Gras legen. Solange der Stein da ist, wächst das Gras an dieser Stelle nicht. Entfernt man den Stein jedoch, beginnt das Gras erneut zu wachsen. Denn die Wurzeln von Gier, Ärger und Verblendung sind noch immer vorhanden. Siddhartha erkannte dies und verließ daraufhin seine Lehrer, um selbst den Weg zu finden.

Eines Tages vernahm er die Worte eines Musiklehrers, der seinen Schülern beibrachte, wie man eine Sitar richtig spielte: „Wenn du die Saiten zu fest ziehst, werden sie reißen. Lässt du sie zu locker, geben sie keinen Ton. Um den perfekten Klang zu finden, muss man die Saiten so spannen, dass sie weder zu locker noch zu fest sind.“

Der mittlere Weg

Da erkannte Siddhartha, dass es der Mittelweg ist, der zum Ziel führt. Weder sollte man seinen Körper als Feind ansehen noch ein ausschweifendes Luxusleben führen. Das erklärt ein wenig, wie lang der Weg ist, den ein Buddha zur Verwirklichung gehen muss.

Wir haben Glück, denn wir haben die buddhistischen Lehren und Lehrer, die uns den buddhistischen Weg lehren können. Wir haben eine Fackel. Deshalb sind Lehrer so wichtig. Mit dem theoretischen Studium allein ist Befreiung nicht möglich. Das alleinige Praktizieren kann uns eventuell zur Erleuchtung führen, aber es wird ein sehr langer Weg, wenn wir den Weg nicht sehen können und erst alle „falschen“ Wege ausprobieren müssen.

Vorsichtig solltest du auch mit dem Schreiben eines Tagebuchs sein, denn es kann passieren, dass du, nachdem du ein paar Einsichten gewonnen hast, nur noch schreibst, anstatt zu praktizieren. Der Geist hat die Tendenz, immer nach Ablenkung zu suchen. Er ist nicht gerne ein stiller Beobachter.

Was können wir tun, um unsere Konzentration zu steigern?

MC Brigitte: Es gibt zwei Arten der Meditationspraxis. Eine ist Samatha, Konzentrations-Meditation. Diese Art der Meditation konzentriert sich auf ein Objekt. Dies kann die Atmung, ein Kasina Objekt oder auch ein Mantra sein. Man konzentriert sich nur auf dieses eine Hauptobjekt. Alle anderen Dinge, die während der Meditation auftauchen, werden ausgeblendet. Auf diese Weise können Fokussierung und Konzentration sehr stark werden und man kann die verschiedenen Stufen der Jhanas oder Vertiefungen erreichen. Jede Stufe der Jhana erfordert dabei unterschiedliche Bedingungen. Erfüllt man diese Bedingungen, gelangt man zur nächsten Stufe.

Die andere Meditationspraxis ist Vipassana, Einsichts- oder Klarblicksmeditation. Meistens benutzen wir unseren Atem für die Meditation. Am Anfang geht es darum, sich zum Beispiel auf das Heben und Senken der Bauchdecke zu konzentrieren, um den Geist zu beruhigen. Auch die Vipassana-Meditation braucht ein Objekt im gegenwärtigen Moment, um den Geist zu fokussieren. Die Konzentration muss dabei nicht so tief sein wie bei der Samatha-Praxis. Wenn der Geist ruhig ist lassen wir nach und nach das Objekt (z. b. den Atem) wieder los und versuchen präsent zu sein und Körper, Geist, Gefühle und Dhamma, die wahre Natur der Dinge zu erkennen.

Das richtige Denken

Vipassana nutzt das Wissen und die Weisheit über die Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit und die Unkontrollierbarkeit der Dinge. Vipassana ist nicht das Kontrollieren der Gedanken, sondern zu erkennen was „rechtes Denken“ ist. „Rechtes Denken“ ist ein Teil des Edlen Achtfachen Pfades. „Falsches Denken“ führt zu Leiden, „rechtes Denken“ zum Verlöschen des Leidens. Vipassana bedeutet daher, sich nicht nur zu konzentrieren, sondern auch Weisheit zu entwickeln.

Es gibt dafür das schöne Bild des Teiches. Wenn der Wind weht, kräuselt sich die Wasseroberfläche, Sand und Schlamm werden aufgewühlt und vermischen sich mit dem Wasser. Das Wasser ist nicht länger klar, es ist nicht mehr möglich, in die Tiefe zu sehen. Genauso verhält es sich mit unserem Geist: Sind da zu viele Gedanken, ist unser Geist immer in Bewegung. Die Gedanken sind wie der Wind, der die Wasseroberfläche bewegt und den Schlamm aufwühlt. Wir können nicht in die Tiefe unseres Geistes blicken, sondern sehen nur die Wellen unserer Gedanken.

Deshalb müssen wir die Gedanken verlangsamen oder versuchen, sie zu stoppen. Dann stört kein Wind mehr die Oberfläche unseres Geistes. Erst dann werden wir in der Lage sein zu sehen, was mit unserem Geist passiert, wenn Windturbulenzen auftauchen. Wir beginnen, die Natur der Dinge besser zu verstehen. Mit dieser Art von Konzentration können wir uns öffnen. Es ist, als ob wir den Stein vom Gras heben, um die darunter liegenden Verunreinigungen zu entwurzeln.

Emotionen und Weisheit

Wir Menschen haben die grossartige Fähigkeit zu denken. Die meisten anderen Wesen, wie z. B. Tiere haben diese Fähigkeit nicht. Es gibt da also citta und mano. Citta ist der emotionale Teil, der sich in Verlangen und Abneigung äußert. Wir mögen dies, wir wollen jenes, wir mögen das nicht. Das andere Teil, ist der Weisheitsteil: Das Verstehen, woher die Emotion kommt. Dafür nutzen wir unser Wissen über die gegenwärtige Situation und lernen, den Geist zu kontrollieren. Manu ist stärker als Emotionen, weil Weisheit vorhanden ist. Diese sieht die Dinge, die zu Leiden führen. Das ist es, was wir mit Meditation zu entwickeln versuchen. Das Verstehen der wahren Natur. Emotionen sind da. Sie tauchen auf, aber wir müssen uns nicht an sie klammern. Wir können auch nur beobachten, wie sie auftauchen, eine Weile bleiben und wieder vergehen.

Im gegenwärtigen Moment sein

Wenn wir Vipassana praktizieren, versuchen wir im gegenwärtigen Moment zu sein. Am Anfang ist dies die Konzentration auf ein Objekt wie z. B. Gehen oder auf die Atmung. Doch mit ausreichender Übung werden wir das Meditationsobjekt loslassen, um ganz im Hier und Jetzt zu sein.

Das stärkste Objekt im gegenwärtigen Moment wird dann auch das Präsenteste sein. Dies kann Sehen sein, Hören oder Denken. Dies können aber auch Empfindungen sein. Wir registrieren nur das Objekt, nehmen es nur zur Kenntnis. Es spielt also keine Rolle, ob es eine Emotion wie Ärger ist oder ein Kontakt mit unseren Augen oder Ohren. Wir notieren und registrieren, was immer gerade im Moment passiert.

Irgendwann werden die Eindrücke in einem Geist so schnell aufeinander folgen, dass es nicht mehr möglich ist, ein bestimmtes Objekt wahrzunehmen, sondern nur die große Bandbreite der Dinge, die gerade vorbeiziehen. Ein ständiger Wechsel von Kommen und Gehen, von Entstehen und Vergehen.

Egal, wie weit wir auf unserem Weg der Achtsamkeit sind, am Ende ist da nur noch das Sein, die vollständige wahre Natur. In diesem Stadium der Praxis, wählen wir kein Objekt mehr.