Der folgende Text beantwortet Fragen von Studenten an MC Brigitte zur Praxis des buddhistischen Pfades während eines Retreats in Sao Paolo vom 13. bis 16. Februar 2021.

1. Wie kann man Selbstvergebung üben, so dass man wirklich vergeben kann und einem vergeben wird?

Zuerst müssen wir uns selbst akzeptieren, so wie wir sind. Das, was ist, akzeptieren. Wenn wir das nicht können, dann wollen wir immer irgendetwas anderes. Wir wollen, dass die Dinge anders sind, als sie gerade sind. Dann werden wir uns immer etwas in der Zukunft oder in der Vergangenheit wünschen, hoffend und denkend, dass es besser sein wird als jetzt.  Wir denken vielleicht: “Ich war früher besser.” Oder: “Ich werde mich in Zukunft verbessern.” Beides ergibt keinen Sinn. Unser Leben findet nur jetzt statt. Dieser jetzige Moment ist alles, was wir haben. Wenn wir den gegenwärtigen Moment dazu verwenden, auf etwas Besseres in der Zukunft zu hoffen, verschwenden wir den jetzigen Moment. So, akzeptiere, was JETZT ist. Akzeptiere dich selbst. Das ist Vergeben. Nicht verzeihen zu können bedeutet, dass wir in der Vergangenheit feststecken. Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, sind vorbei. Sie sind nicht mehr da und sie können nicht geändert werden. Wir können das Jetzt ändern und damit können wir die Zukunft ändern. Das gilt für jeden von uns.

2. Wie geht man mit einer netten, aber faulen Person auf der Arbeit um, die nahezu alle Aufgaben an ihre Kollegen weitergibt, wenn man zufällig der Chef dieser Person ist? Wie weiß man, ob man etwas unternehmen sollte, um ihr Verhalten zu ändern, auch wenn man sich nicht darauf verlassen kann, dass sich etwas ändert, oder ob man nichts dagegen tun sollte?

Sage ihr, was du denkst. Sie ist ein guter Mensch, aber ihre Arbeitseinstellung ist nicht akzeptabel, da ihre Kollegen darunter leiden. Frage, ob sie das sehen, und ob sie das akzeptieren kann. Wenn sie ein guter Mensch ist, wird sie offen für diese Kritik sein. Und dann kannst du ihr vorschlagen, wie sie das ändern könnte. Wenn sie das nicht akzeptieren und kein Mitgefühl für ihre Kollegen aufbringen kann, muss sie vielleicht lernen, ein besserer Mensch zu sein.

3. Kann ich Samadhi getrennt praktizieren? Oder sollte ich Samadhi immer im Zusammenhang mit Vipassana üben?

Vipassana kann nicht ohne Samatha praktiziert werden. Der Geist muss zuerst fokussiert werden. Sonst wirst du nicht in der Lage sein, sati (Achtsamkeit) in Verbindung mit dem gegenwärtigen Objekt entstehen zu lassen. Es gibt also kein Vipassana ohne Samatha. Manche sagen, das Wissen um das Steigen und Fallen des Unterleibs sei Vipassana – das ist es nicht. Die Konzentration auf den Bauchraum ist Samatha. Erst wenn sati stark genug ist, wird man sich nicht mehr nur auf ein Objekt konzentrieren, sondern in der Lage sein, die wahre Natur des Körpers, der Gefühle und des Geistes zu sehen. Dann wird man den Dhamma erkennen – die drei Eigenschaften von Unbeständigkeit, Leiden und Nicht-Selbst. Dies ist Vipassana.

4. Meine Frage bezieht sich auf die Meditation im Liegen und im Stehen. Ich frage mich, ob ich überwiegend den Körper scannen sollte. Könntest du ein bisschen ausführlicher über die Anwendung des “Bodyscanning” sprechen, über den möglichen Nutzen oder die Vorteile? Und auch darüber, was man verlieren könnte, wenn man das Scanning nicht praktiziert?

Der Body Scan ist eine gute Methode, um konzentiert zu bleiben und auch den Geist in der Bewegung fokussiert zu halten. Die Meditation im Liegen ist etwas schwierig, weil man dabei einschlafen könnte. Deshalb kann es nützlich sein, ein sich bewegendes oder veränderndes Objekt in der Meditation zu haben. Es hilft dabei, wach zu bleiben. Außerdem kann dies auch eine heilende Wirkung haben. Obwohl das kein Muss ist. Der Buddha lehrte es nicht auf diese Weise. Auch lehrte er nicht zu beobachten, wie sich der Bauchraum hebt und senkt oder eine bestimmte Schrittfolge bei der Gehmeditation. Dies sind nur Hilfstechniken, durch die wir nichts verlieren, wenn wir sie nicht anwenden. Sie sind nur Werkzeuge – wichtig ist vielmehr, dass wir wissen, was wir tun!

5. Ich praktiziere seit vielen Jahren. Kürzlich wurde ich an meinem Arbeitsplatz kritisiert, und in dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen, weil ich die ganze Nacht an den Vorfall denken musste, obwohl ich alles versuchte, um meine Gedanken loszuwerden. Was ist in einer solchen Situation zu tun?

Das ist eine gute Frage. Zuallererst müssen wir verstehen, dass wir nicht meditieren, um Dinge loszuwerden. Wir praktizieren, um Achtsamkeit zu verstehen. In solch einem Fall also, wenn das Denken unruhig ist, sollte man sich an die Situation so erinnern, wie man es eigentlich wissen sollte. Also wissen, dass gerade Denken stattfindet. Die Reaktion auf diese Gedanken kennen. Verletzt sein, unsicher sein, wütend sein – es so benennen, wie man es gerade erlebt. Erkennst du dies, bist du dir dessen bewusst, dann entziehst du sich sofort selbst dieser Situation. Du bist der Beobachter. Wenn das Objekt stark ist, was bei dir der Fall war, wisse: Ok. Dies ist ein „wunder Punkt“ von mir. Dies verletzt mich auf einer tieferen Ebene. Dies geschieht, wenn wir uns stark mit einem „Ich“ identifizieren. Ich wurde verletzt. Ich fühle mich niedergeschlagen, deprimiert und so weiter. Wenn die Identifikation damit stark ist, ist auch das Leiden stark.

Das, was wir in einem solchen Moment sehen, sind die Vier edlen Wahrheiten:

1. Wahrheit: Ich leide, das ist klar. Darüber muss man sich klar sein. Das Leiden muss erkannt werden.

2. Wahrheit: Warum? Was ist die Ursache des Leidens? Weil ich mich mit derjenigen Person identifiziere, die kritisiert wird. Mein „Ich“ ist verletzt. Anhaftung und Identifikation ist die Ursache des Leidens. Dies muss beseitigt werden.

3. Wahrheit: Die Beendigung des Leidens. Dies muss verstehen werden.

4. Die Wahrheit: Der Weg – der Weg, um das Leiden zu beenden. Das Loslassen. Die muss entwickelt werden.

Das ist das Wichtigste, dies zu erkennen. Durch Selbstbeobachtung, durch das Verbrennen an übermäßiges Denken. Wenn wir erkennen, dass dies Leiden ist, lernt unser Geist. Und er wird sich früher oder später von unpassenden oder falschen Gedanken abwenden.

6. Wie erkenne ich, ob ich loslasse oder Gedanken nur unterdrücke?

Es gibt einen Fehler, den wir in einer solchen Situation machen können, und das wäre der Versuch, uns selbst davon abzulenken, es zu sehen. Alles zu tun, um das Leiden nicht zu sehen. Etwa einen Film anschauen oder sich betrinken. Irgendetwas, was uns von der Situation ablenkt, anstatt sie zu betrachten. Wenn wir aber immer wieder hinschauen, wird der Geist früher oder später lernen zu erkennen, dass dies einfach nur weh tut. Wie bei einem kleinen Kind: Wenn man dem Kind sagt, es soll die Kerzenflamme nicht berühren, hört es vielleicht nicht darauf. Aber sobald das Kind die Finger in die Flamme steckt, weiß es Bescheid. “Ich verbrenne mich, wenn ich meine Finger in die Flammen halte.” Genauso verhält es sich mit unserem Geist. Er ist starrsinnig und muss lernen, lernen durch Sehen und Hinschauen, nicht durch Wegschauen. Dann wird er sich von unangemessenen Handlungen, Worten und Gedanken abwenden. Normalerweise will niemand leiden.