Das Thema „Reinheit des Geistes und meditativer Klarblick“ ist sehr tiefgründig. Es hat zu tun mit Erlebnissen, die sich durch die Meditationspraxis einstellen. Leute, die nicht meditieren, kennen diese Erfahrungen nicht. Aber auch die Übenden selber finden es oft schwierig, einer kurzgefaßten Darstellung des Übungsablaufes zu folgen, es sei denn, sie hätten zuvor schon buddhistische Schriften gelesen und sich mit der Terminologie vertraut gemacht. Um Zweifeln oder Mißverständnissen vorzubeugen, werde ich mich bemühen, die wirkliche Bedeutung der Vorstellungen über geistige Entwicklung zu klären, wie wir sie in der Buddhalehre finden.

Wahrheit des Leidens

Das Ziel dieser Lehre, dargelegt in den vier edlen Wahrheiten, ist ein umfassendes Verständnis, was Leiden eigentlich ist und wie man es beenden kann. Im buddhistischen Verständnis bleibt der Begriff des Leidens nicht auf schmerzhafte oder deprimierende Erfahrungen beschränkt. Er bezieht sich vielmehr auf Phänomene, die der Veränderung unterworfen sind, die nicht so bleiben, wie sie sind. Denken Sie noch einen Moment darüber nach, und Sie werden mir zustimmen, daß es in der Tat im ganzen Universum nichts gibt, was dieser Definition von Leiden entgeht: Alles, was existiert, ist abhängig von Bedingungen, die wiederum nicht stabil sind. Es gibt nichts in der Welt, was sich im Laufe der Zeit nicht verändert. Was wir Glück nennen, ist auch nur eine Ausdrucksform dieses Leidens. Wir können angenehme Dinge und schöne Zustände genießen, solange sie dauern. Wir werden aber immer das Problem haben, die Bedingungen für unser Glück aufrechtzuerhalten, und wenn sie sich letztlich ändern, hinterlassen sie ein Gefühl der Entbehrung und unbefriedigtes Verlangen, das nach Wiederholung ruft. Bedingte Phänomene können keine dauernde Befriedigung geben. Deshalb nennen wir sie Leiden.

Wahrheit des Ursprungs: …Verlangen…


Als Ursache des Leidens wird das Anhaften an diesen ewig wechselnden, bedingten Phänomenen betrachtet – daß man sie für glückspendend und dauerhaft hält. Wir nehmen fälschlich das Versprechen von Glück in manchen Objekten wahr, und so entsteht Begierde. Das führt dann zum Anhaften und Handeln, um zu bekommen, was wir wollen. Wenn unser Handeln Früchte trägt, schweigt die Begierde vorübergehend. Das nennen wir dann Glück. Es ist aber nicht die Anwesenheit von begehrten Objekten, was uns glücklich macht, sondern nur die Abwesenheit von Verlangen im Geiste. Weil aber der Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit auf die Objekte gerichtet ist und nicht auf den Geist selbst, entsteht der Eindruck, daß Glück eine Eigenschaft wäre, die den Objekten zugeschrieben werden muß. Schließlich sehen wir nur einen Weg zum Glück, und der führt über Objekte des Verlangens. So kommt es, daß Anhaften selbst für eine gute Sache gehalten wird: Es ermöglicht uns, Dinge intensiver zu genießen. In Wirklichkeit versuchen wir nur, das Verlangen loszuwerden, denn dann fühlen wir uns glücklich. Und wir merken einfach nicht, daß es unmöglich ist, das Verlangen auszulöschen, solange es auf vergängliche Phänomene gerichtet ist.

Wahrheit des Verlöschens


Es liegt an unserer Unwissenheit über die wahre Natur der bedingten Phänomene, daß wir Anhaften mit Glücklichsein verwechseln – und unwillentlich weiterhin mehr Leiden anhäufen. Um nun aber die Ursache dieses Leidens unschädlich zu machen, das heißt, nicht mehr anzuhaften, muß man den Schleier der Unwissenheit durchdringen und eine korrekte Wahrnehmung der äußeren Welt erreichen. Das läßt sich nicht einfach durch intellektuelle Studien oder ein moralisches Leben bewerkstelligen. Man muß die geeignete Methode geistiger Entwicklung anwenden, die zum Auftauchen überweltlicher Weisheit führt.

Wahrheit des Weges: Der achtfache Pfad


Für diesen Zweck hat Buddha die Übung der Klarblicksmeditation gelehrt, anhand des Achtfachen Pfades. Der Achtfache Pfad besteht aus einer dreifachen Schulung: Sittlichkeit, Konzentration und Weisheit.

Rechte Rede, Rechtes Handeln und Rechter Lebenserwerb – drei Glieder des Achtfachen Pfades, bilden zusammen die Sittlichkeitsgruppe der dreifachen Schulung. Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit und Rechte Konzentration bilden die Schulung der Konzentration. Rechtes Verständnis und Rechtes Denken sind die Weisheitsgruppe. Der Achtfache Pfad hat die Funktion, zum Ende des Leidens zu führen. Wenn Sittlichkeit, Konzentration und Weisheit allmählich herangebildet werden durch die Übung der Klarblicksmeditaion, wird der Geist mehr und mehr verfeinert, die ursprüngliche Verblendung weicht schrittweise einem klaren Erkennen, wie die Dinge eigentlich sind.

Die Sieben Reinheitsstufen


Nun gibt es sieben unterschiedliche Stufen geistiger Reinheit, die in einem Zustand gipfeln, der die wahre Natur der Existenz unvoreingenommen aufnimmt. Die erste Stufe der Reinheit heißt „Reinheit des Betragens“, das bezieht sich auf Sittlichkeit. Die zweite Stufe ist „Reinheit des Geistes“ durch Konzentration. Die dritte heißt „Reinheit der Ansicht“. Als vierte kommt dann die „Reinheit der Überwindung von Zweifeln“. Die fünfte Stufe heißt „Reinheit der Klaren Schau, was der Pfad ist und was nicht der Pfad ist“. Die sechste Stufe heißt „Reinheit der Klaren Schau des Übungsablaufs“. Die siebte Stufe ist „Reinheit der Klaren Schau“. Hier sehen wir die volle Entfaltung der Weisheit.

Der Achfache Pfad ist mit den Sieben Reinheitsstufen durch die dreifache Schulung verbunden. Die erste Reinheitsstufe hängt mit der Sittlichkeit beim Achtfachen Pfad zusammen, die zweite mit der Konzentration. Von der dritten bis zur sechsten Reinheitsstufe wird die Weisheit auf weltlicher Ebene entwickelt, bis sie stark genug ist, das Überweltliche zu erleben. Gleichzeitig wird die Konzentration vertieft und die Sittlichkeit gefestigt, sodaß mit der siebten Reinheitsstufe der ganze Achtfache Pfad voll entfaltet ist. Dann nennt man ihn den Überweltlichen oder Edlen Pfad.

Die Sechzehn Klarblickschritte

Es gibt noch ein anderes Herangehen an die Entfaltung von Weisheit, und zwar mit den sechzehn Schritten des Klarblickswissens. Die Reinheitsstufen beschreiben uns den Zustand des Geistes, wie er sich in Übereinstimmung mit der Entwicklung des Achtfachen Pfades verändert. Die Klarblickschritte, hingegen, geben uns einen lebhafteren Eindruck davon, was der Meditierende während des Übungsverlaufes von der dritten Reinheitsstufe an erlebt. Die ersten drei Klarblickwissen korrespondieren mit den Reinheitsstufen drei, vier und fünf. Auf der Basis der sechsten Stufe gibt es eine Aufeinanderfolge von acht Klarblickswissen, die in die siebte Reinheitsstufe mündet. Die restlichen fünf Klarblickschritte gehören dieser Stufe an. Von den sechzehn Wissenschritten sind nur der vierzehnte und fünfzehnte überweltliche Weisheit, sie sind mit einem überweltlichen Objekt beschäftigt. Alle anderen Klarblickwissen sind weltliche Weisheit, sie haben weltliche Objekte.

Reinheit ist Klarblick

Überhaupt ist der ganze Prozeß der Verfeinerung des Geistes durch die sieben Reinheitsstufen nichts weiter als eine allmähliche Entfaltung von Weisheit, wobei falsche Ansichten berichtigt werden. Wenn ein Klarblickwissen auftaucht, ist es zunächst schwach. Es kann leicht wieder verloren gehen. Wenn der Meditierende sich weiter bemüht, wird sein Klarblick solide und gediegen. Erst dann kann man sagen, daß der Geist die entsprechende Reinheitsstufe erfüllt hat.

Die wichtigste von allen Reinheitststufen ist die sechste. Hier finden wir den Hauptteil der Übung, nachdem der Meditierende die Methode geistiger Entwicklung aus persönlicher Anschauung erkannt hat. Dann kommt eine Abfolge von acht Klarblickwissen ehe die sechste Reinheitsstufe erfüllt ist. Die siebte Reinheitsstufe wird nur mit dem vierzehnten und fünfzehnten Klarblickwissen erreicht. Die sind überweltlich. Da aber das zwölfte und dreizehnte Klarblickwissen, und auch das sechzehnte, untrennbar mit der Erzeugung des Edlen Pfades verbunden sind, werden sie auch zur höchsten Stufe gezählt.

Klarblick ist Achtsamkeit

Das Ziel der Buddhalehre ist die direkte Erfahrung der höchsten Wirklichkeit. Die Übung von Klarblickmeditation fördert die Entwicklung von Weisheit. Und Weisheit hat die Stärke, Unwissenheit zu überwinden. Hier handelt es sich aber um etwas anderes als um Wissen, das wir durch Bücherstudium erwerben können, oder indem wir über unsere Erfahrung reflektieren. Voraussetzung für das Auftauchen von Klarblickweisheit ist die Anwendung der Achtsamkeit auf unsere gegenwärtige Erfahrung. Man kann die Wirklichkeit nur erleben, wenn sie existiert. Sie kann nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft gefunden werden. Nur was sich gerade jetzt präsentiert, ist letzten Endes auch wirklich und kann Auskunft geben über die wahre Natur von Körper und Geist. Wenn der Brennpunkt der Achtsamkeit auf das gegenwärtige Objekt gerichtet bleibt, dann wird es möglich, die wahren Merkmale bedingter Phänomene zu erkennen und sich vom Anhaften zu befreien.

Achtsamkeit ist der Weg

Rechte Achtsamkeit ist der führende Bestandteil des Achtfachen Pfades. Achtsamkeit ist der Ursprung der Weisheit, die entwickelt werden muß. Wenn Achtsamkeit geübt wird, werden alle anderen Bestandteile des Pfades dem einen Ziel der Befreiung zugewendet. Dann werden im Laufe der Zeit die sieben Reinheitsstufen und die sechzehn Klarblickschritte im Geiste manifest.

Zu Beginn der Übung sind jedoch Aachtsamkeit, Konzentration und die anderen Bestandteile des Pfades noch schwach. Deshalb spielt am Anfang die Energie eine entscheidende Rolle. Es ist die Entscheidung sich in der Übung anzustrengen, und weiterzumachen, bis die Achtsamkeit fest eingerichtet ist und das Klarblickwissen sich äußert.

Schauen wir uns nun die Reinheitsstufen und die Klarblickschritte im Einzelnen an-

I.                   Reinheit der Sittlichkeit

Der Anfänger kann seinen Geist nicht kontrollieren und für die Erforschung der Wirklichkeit einsetzen. Man fühlt sich gestört durch wandernde Gedanken, durch Aufregung oder Ängste, aber Konzentration und Weisheit lassen zu wünschen übrig. Unser Handeln ist oft von Unreinheiten motiviert. Das verursacht wiederum mehr Störung im Geist. So findet man keine Ruhe. Deshalb sollte man zunächst auf die Reinheit des Betragens mit Körper und Sprache achten, indem man die fünf, acht oder zehn Übungsregeln nimmt, wenn man ein Laie ist, oder die zweihundertsiebenundzwanzig Regeln für Bhikkhus. Wenn man sich an die Regeln hält, wird das Betragen gut, und der Geist beruhigt sich zumindest soweit, daß man sich weiter anstrengen kann, den Grad an Konzentration zu erreichen, der für weiteren Fortschritt unerläßlich ist. Reinheit des Betragens besteht in der Übung der Sittlichkeitsgruppe aus dem Achtfachen Pfad.

II. Reinheit des Geistes

Wenn Körper und Rede als wären es Tore bewacht werden von Achtsamkeit auf die Übungsregeln, dann liegt der nächste Schritt in der Überwindung der ablenkenden und störenden Gedanken, die aus Unachtsamkeit bei den fünf geistigen Hemmnissen entspringen – dazu gehören Sinnesbegierde, Ärger, Schläfrigkeit, Unruhe und skeptische Zweifel. Das wird erreicht durch die Entwicklung der Konzentration.

Sammlung und Klarblick – I

Hier gibt es nun zwei Wege, die Konzentration zu schulen. Die traditionelle Methode zu Buddhas Zeiten, die heute immer noch verbreitet ist, erzeugt Konzentration, indem der Geist auf ein ausgesuchtes Objekt fixiert wird, wie z.B. eine farbige Scheibe, eine Kerzenflamme oder ein Mantra. Wenn durch fortgesetzte Bemühung das Objekt allezeit fest im Geist verankert ist, dann tauchen die Hindernisse nicht auf, aber Sinnesempfindungen von der Außenwelt werden dennoch registriert. Das nennt man angrenzende Sammlung oder Konzentration. Die ‚Reinheit des Geistes“ ist erreicht, wenn die angrenzende Sammlung erreicht ist. Konzentriert man sich weiter ausschließlich auf das gewählte Objekt, so fällt der Geist am Ende in eine Art erhebende Freude und Ruhe. Da sind dann keine Sinnesempfindungen, also sind die Hemmnisse gründlich blockiert, zumindest zeitweise, während der Geist unrührbar fixiert ist auf ein rein geistiges Nachbild des ursprünglichen Objekts. Das ist dann Vertiefungskonzentration. Während der Vertiefung ist es nicht möglich, Klarblick zu entwickeln, weil man nicht auf das Ineinanderspiel der sechs Sinne achtet. Das Erreichen der Vertiefung mit Konzentrationstechniken führt deshalb auch nicht über diese zweite Reinheitsstufe hinaus. Es verstärkt nur die Festigkeit des Geistes.

Die Art von Konzentration, nun die in der Klarblick Meditation gebraucht wird, heißt momentane Konzentration. Die soll jetzt erklärt werden.

Momentane Konzentration

In der Übung des Klarblicks wird die Achtsamkeit auf jede Sinnesempfindung gerichtet, die einen der sechs Sinne berührt – die bekannten fünf und den Geist, der Emotionen, Gedanken, Erinnerungen und ähnliches erlebt. Der Meditierende erkennt bald die Schwierigkeit, die einander folgenden Sinneseindrücke klar zu sehen. Man kann nicht mal eins vom anderen trennen. Das liegt an unserer eingefleischten Gewohnheit, die Wirklichkeit zu ignorieren. Wir glauben, uns selbst zu kennen, und halten die Welt für ein eigenständiges Gebilde, das zu unserer Verfügung steht. Darum kümmern wir uns gar nicht mehr. Unsere Aufmerksamkeit ist voll beschäftigt mit Ideen und Vorstellungen über „Dinge“, die wir selbst geschaffen haben auf der Basis komplexer Wahrnehmungsmuster, an denen alle Sinne beteiligt sind. Und so sehen wir die Welt im Zerrspiegel falscher Ansicht.

Wie meditiert man?

Für Klarblick Meditation ist es notwendig, die Aufmerksamkeit nach innen zu lenken, um zu beobachten, wie dieser Sinnesorganismus Erfahrung zustande bringt. Dabei muß man alle Vorstellungen beiseite schieben. Man muß sich nur bemühen, das tatsächliche Auftreten von Sinneseindrücken zu bemerken, z.B. sehen, hören, fühlen, denken. Die Abfolge dieser Eindrücke ist aber so schnell, daß man nicht einfach hineinspringen kann. Man hat ja keinen Halt. Deshalb soll man damit beginnen, ein einzelnes, wiederkehrendes Objekt zu beachten. Gewöhnlich ist die Empfindung des Hebens und Senkens der Bauchdecke beim Atmen das Hauptobjekt für die Klarblick Meditation. Es muß ununterbrochen beachtet werden. Wenn die Aufmerksamkeit abdriftet und der Geist wandert, abgelenkt ist oder Gedanken nachhängt, so muß man die Sinnesempfindung noten, die den Geist gerade beschäftigt. Danach richtet man die Aufmerksamkeit wieder auf das Hauptobjekt.

So übt man momentane Konzentration, indem man sich immer auf das konzentriert, was gerade im gegenwärtigen Moment passiert. Bei dieser Übung werden Achtsamkeit und Konzentration gleichermaßen, bis der Übende die geistigen Hindernisse erkennt, sobald sie im Geiste auftauchen. Wenn es so weit ist, hat der Meditierende schon Routine. Er wird sie noten und sogleich zurück zum Hauptobjekt gehen. Die zweite Reinheitsstufe, ‚Reinheit des Geistes‘, ist in der Klarblick Meditation erreicht, wenn momentane Konzentration in ununterbrochener Folge entsteht, denn sie hat dann die Stärke von angrenzender Sammlung. Sie richtet sich aber nicht auf ein einzelnes Objekt, sondern ist offen, alles zu bemerken, was auftaucht.

Von hier an entfalten sich im Meditierenden die sechzehn Klarblickwissen,während er nur die Abfolge der Ereignisse beobachtet, so wie sie sich dem Bewßtsein präsentieren. Im Laufe dieser Entwicklung werden die drei allgemeinen Merkmale – Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit, Substanzlosigkeit – immer deutlicher wahrgenommen, bei jedem Objekt, das man notet. Außerdem wird die momentane Konzentration weiter dadurch gekräftigt, daß man sich bemüht, die einzelnen Erlebnisse schneller zu erkennen, und sie dann losläßt, um bereit zu sein für das nächste Ereignis.

Sammlung und Klarblick – II

Was nun den Unterschied zwischen angrenzender Sammlung und momentaner Konzentration betrifft, da muß man sich vor Augen halten, wie unterschiedlich die Methoden und Ziele sind, mit denen die Geisteskraft Konzentration bei der Sammlungsmeditation und bei der Klarblicksmeditation eingesetzt wird.

In der Sammlungsübung, heißt es, ist angrenzende Sammlung erreicht, wenn das materielle Objekt klarbewußt erfaßt ist, und die Hindernisse vorübergehend unterdrückt sind. In der Klarblick Meditation ist das Objekt der Betrachtung jedoch die Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Substanzlosigkeit aller Dinge – ein Objekt, das man nur mit Weisheit erkennen kann. Hat der Klarblick Übende die Stufe ‚Reinheit des Geistes‘ erreicht, so gewinnt er jetzt die Fähigkeit, sich auf die besonderen Merkmale (sabhava) der einzelnen Objekte zu konzentrieren, die auf seine Sinne einwirken. Die unmittelbare Beobachtung führt ihn zu der Überzeugung, daß alle Objekte vergänglich sind. Die drei allgemeinen Merkmale der Existenz, das eigentliche Hauptobjekt der Klarblickübung, werden hier zum ersten Mal klar aufgefaßt und zum Inhalt der Meditation. Dies ist eine ähnliche Veränderung wie der Übergang zur angrenzenden Sammlung, weil die Konzentration die Stärke erreicht für eine Verfeinerung des Objekts und des wahrnehmenden Bewußtseins. Jedoch hat das Klarblickobjekt Merkmale, die nur erkannt werden können.

Eine weitere Paralelle liegt im Fortfall der fünf geistigen Hemmnisse. In der Klarblickübung werden die Hemmnisse aber nicht unterdrückt, sondern werden erlebt als vergängliche Phänomene, die kurz den Geist berühren. Die momentane Konzentration hat dann die Stärke angrenzender Sammlung erreicht, was die Überwindung der Hemmnisse betrifft.

Wenn der Klarblick gediegen wird in der Betrachtung der drei Merkmale, dann wandelt sich die momentane Konzentration in angrenzende Sammlung, die dem Erreichen des Edlen Pfades nahesteht. Dies ist eine andere Grenze als der Übergang zur Vertiefung bei der Sammlungsübung. Obwohl es nur eine Geisteskraft der Konzentration gibt, wird diese Kraft unterschiedlich eingesetzt, je nachdem, ob man Sammlung oder Klarblick anstrebt.

Sammlung und Klarblick – III

Schauen wir uns den Unterschied noch etwas näher an: Von Natur aus hat der Geist (nama) die Neigung sich hinzuneigen (namati) zu einem Objekt. Im Zuge der Sammlungsübung wird diese Neigung genutzt, indem man die Ausrichtung des Geistes auf das Objekt eingrenzt, um den Geist zu stabilisieren und ein geistiges Nachbild zu erlangen – das Kennzeichen der angrenzenden Sammlung. Ist dies erreicht, so sind die Hemmnisse überwunden, und der Prozeß läuft weiter auf die Erfüllung der fünf Vertiefungsglieder (jhananga) zu. Dazu gehören anfängliche und fortgesetzte Auffassung, Freude, Glücksgefühl und Objektausrichtung. Sind diese fünf gleichmäßig entfaltet, so geht die Konzentration in Vertiefung über. Man muß hier bemerken, daß die Hinneigung des Geistes zu weltlichen Objekten in der Sammlungsübung eingesetzt und verstärkt wird, bis ein geistiges Nachbild aufgefaßt wird, das dann als sinnlicher Ausdruck des vorgestellten Inhaltes dient.

In der Klarblickmeditation ist es genau umgekehrt: Die Übung wird unternommen, damit der Geist sich von allen Objekten abstößt, sich von allem löst. Das kann nur geleistet werden von überweltlicher Weisheit, die die Wirklichkeit bedingter Phänomene durchdringend versteht und sich gleichzeitig davon löst, ihr entsagt, sie aufgibt. Dann haben wir überweltliche Vertiefung, und das Verlöschen (Nibbana) ist Objekt des Geistes. Die angrenzende Sammlung, oder Sammlung, die an überweltliche Konzentration angrenzt.

Genau wie bei der weltlichen angrenzenden Sammlung der Geist sich auf das erworbene geistige Nachbild konzentriert, um das vollendete oder abstrakte Bild zu erreichen, das mit der Vertiefung einhergeht, so unternimmt der Geist bei der Verwirklichung des Edlen Pfades eine genaue Prüfung des Entstehungs- und Vernichtungs-prozesses, in beide Richtungen, bei jedem Akt der Achtsamkeit, um volles Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten zu erlangen. Das ist dann überweltliche angrenzende Sammlung. Die Geisteskraft Konzentration kann das nicht bewirken, solange die anderen Bestandteile des Pfades noch nicht voll entwickelt sind.

Achtsamkeit ist Reinheit

Ganz zu Anfang der Meditation hat Energie die Führung, bis momentane Konzentration erzeugt ist. Dann, von der ‚Reinheit des Geistes‘ an, übernimmt Konzentration die Führung, während Achtsamkeit darin geübt wird, die Konzentration im Moment zu halten. Aber wie sehr sich der Anfänger auch bemüht, jedes einzelne Geschehnis genau zu beachten, er kann die Hinneigung des Geistes zu den Objekten nicht kontrollieren. In dieser Phase kann es leicht geschehen, daß die Konzentration von momentan zu (weltlicher) angrenzender Sammlung überwechselt. Deshalb können geistige Bilder auftauchen, und die Vertiefungsglieder werden stark. Einzelne Übende mögen sogar unvermutet in Vertiefung gehen. Sie erleben ein plötzliches Verlöschen der Wahrnehmung und glauben, sie wären jetzt heilig. Daran sieht man, daß in der Anfangsphase momentane und angrenzende Sammlung sehr ähnlich sind. Erst wenn der vierte Schritt des Klarblickwissens ausgereift ist, hat Achtsamkeit die Genauigkeit und Kraft, daß sie ein Abweichen von momentaner Konzentration verhindern kann. Von da an übt der Geist nur, sich zurückzuziehen, sich fernzuhalten, die Phänomene loszulassen, sobald die Berührung erkannt wird.

Am Anfang sind Achtsamkeit und Konzentration nur latente Kräfte (indriya), die entwickelt werden müssen. Durch wiederholte Übung wachsen sie heran zu unüberwindlicher Stärke (bala), zu Erleuchtungsgliedern (bojjhanga), und schließlich zu Bestandteilen des Edlen Pfades (magganga).

Es ist also wichtig zu wissen, daß momentane Konzentration, in den Anfangsstufen, der weltlichen angrenzenden Sammlung sehr ähnlich ist und leicht umschlagen kann. Erst vom vierten Klarblickwissen ab ist es dann reine momentane Konzentration, kontrolliert von Achtsamkeit. Dann geht die Entwicklung auf das Erreichen überweltlicher angrenzender Sammlung und Vertiefung zu. Das ist nicht leicht zu erreichen, denn es ist sehr ungewohnt für den Geist, das Verlöschen aufzufassen. Es dauert vergleichsweise lange, obwohl die Stärke der weltlichen angrenzenden Sammlung schon auf dieser zweiten Stufe, der ‚Reinheit des Geistes‘, erreicht ist.

III.Reinheit der Ansicht

Mit ‚Reinheit der Ansicht‘ tritt auch der erste Schritt des Klarblickwissens auf, das ‚Analytisches Wissen von Geist und Körper‘. Die Konzentration entsteht von Moment zu Moment in ununterbrochener Abfolge, und die Achtsamkeit ist geschärft. Der Übende achtet jetzt weniger auf die Vorstellungen, die den Wahrnehmungsprozeß überlagern, während er allmählich der dahinterliegenden Realität gewahr wird.

1. Analytisches Wissen von Geist und Körper

In dem Vorgang des Hebens und Senkens der Bauchdecke kann man nun den Unterschied von Geist und Körper erkennen. In jedem Moment präsentieren sich ein materieller Vorgang und ein geistiger Vorgang, der auf ihm beruht. Darüber hinaus kann man auch verschiedene materielle Vorgänge an ihren besonderen Merkmalen erkennen. Es wird hier z. B. klar, daß das Heben der Bauchdecke ganz verschieden ist vom Senken. Wir haben es hier nicht mit ein und demselben Körper zu tun, sondern einfach mit verschiedenen materiellen Vorgängen. Das gleiche finden wir bei anderen Sinneswahrnehmungen, wie sehen, höhren, gehen, usw. Die Achtsamkeit ist fixiert auf die gegenwärtig erlebte Wirklichkeit von Geist und Körper, und es wird dem Übenden klar, daß es so etwas wie ein unabhängiges Selbst nicht gibt. Die Vorstellung des Selbst ist eine falsche Vorstellung, die auf die Erfahrung projiziert wird. Im Prozeß der materiellen und geistigen Vorgänge ist es nicht zu finden.

Das ‚Analytisches Wissen von Körper und Geist‘ erkennt falsche Ansichten des Selbst zunächst einmal, und verwirft sie dann. Das ist die ‚Reinheit der Ansicht‘.

IV. Reinheit der Überwindung von Zweifeln

2. Wissen, das die Bedingtheit durchdringt

Durch ausdauernde Übung des Bemerkens wird der Übende bald die Ursachen der gegenwärtig auftauchenden Phänomene erkennen. Man notet zuerst die Absicht, sich zu bewegen, und hinterher den materiellen Vorgang der Bewegung. Daher weiß man, daß Materie vom Geist verursacht ist. Dann wieder bemerkt man zuerst die materielle Bewegung, und unmittelbar darauf den Geist, der diese Bewegung erlebt. Dadurch wird es klar, daß Bewußtsein nur entsteht, wenn da ein Objekt ist, materiell oder geistig. Auf diese Weise erreicht man den zweiten Schritt des Klarblickwissens, das ‚Wissen, das die Bedingtheit durchdringt‘. Durch unmittelbare Erfahrung versteht man, daß jeder Vorgang, der bemerkt wird, von Ursachen abhängt, die selbst auch bedingt entstanden sind. Man begreift, daß dies in der Vergangenheit immer genauso gewesen sein muß und auch in Zukunft so weitergehen wird. Wo auch immer die Bedingungen zusammenkommen, da können die resultierenden Phänomene nicht verhindert werden. Sind aber andererseits die Bedingungen nicht vorhanden, so kann man nichts erzeugen. Dies ist die ‚Reinheit der Überwindung von Zweifeln‘ durch das’Wissen, das die Bedingtheit durchdringt‘.

V. Reinheit der Klaren Schau, was der Pfad ist, und was nicht der Pfad ist

3. Wissen des Begreifens

Bei der Erforschung der Konditionierung, wie auch des Verlaufs konditionierter Phänomene, zentriert sich die Aufmerksamkeit nun auf die drei allgemeinen Merkmale. Der Übende stellt fest, daß ein Vorgang gänzlich verschwindet oder aufhört, bevor ein neuer beginnt. Selbst bei einer langen Folge des gleichen Objekts erlebt man sehr deutlich, daß jeder Moment sofort wieder wegfällt.

– Alle diese Vorgänge sind vergänglich. Wenn sie verschwinden,

bleibt nichts davon zurück.

– Das andauernde Auftauchen solcher Dinge, die wieder zer-

brechen, wird als unbefriedigend erlebt. Es ist leidhaft.

– Sie gehorchen nicht unseren Wünschen, sondern ändern sich

je nach den Bedingungen. Sie existieren nicht aus sich selbst

heraus und können niemandes Besitz sein.

Dies ist der dritte Schritt der Klarblickweisheit, das ‚Wissen des Begreifens‘. Auf dieser Stufe der Entwicklung treten häufig Phänomene auf, die geistig verursacht sind. Lichterscheinung, überströmende Freude und Glücksgefühle, innere Ruhe und unerschöpfliche Energie in der Übung weisen auf dieses Wissen hin. Es gibt da eine große Verlockung, diese Phänomene als definitive Ergebnisse der Übung zu betrachten und an ihnen anzuhaften. Der Übende ist zufrieden mit sich selbst und mit seinen Erlebnissen und versäumt es, Achtsamkeit auf diese ‚Verzerrungen des Klarblicks‘ zu richten. Das sollte man aber tun. Wenn man sie nur einfach notet wie alle anderen Ereignisse, dann wird man sehen, daß auch diese besonderen Phänomene entstehen und vergehen wie alles andere. Dann haftet man nicht an ihnen, und wenn man sich weiter in der Übung bemüht, werden sie nach und nach aufhören.

Nun begreift der Meditierende, daß es in seinem eigenen Wesen nichts Privates gibt, das etwa von dem Prozeß der Veränderung ausgenommen wäre. Er gewinnt die Entschlossenheit, die Übung umfassend weiterzuführen und alles, was geschieht, zu beachten, ohne daran festzuhalten oder sich zu identifizieren. Zu dieser Zeit ist der Geist verfeinert durch die ‚Reinheit der Klaren Schau, was der Pfad ist und was nicht der Pfad ist‘.

VI. Reinheit der Klaren Schau des Übungsverlaufs

Bevor wir weitergehen, lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen, was bisher gesagt wurde. Zu Beginn der Klarblickmeditation fällt es dem Übenden schwer, von der gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung von Konzepten und Vorstellungen wegzukommen und seine Aufmerksamkeit auf das gegenwärtige Objekt zu richten. Wenn sein Betragen rein ist und seine Konzentration bis zur ‚Reinheit des Geistes‘ entwickelt, so braucht er sich nur noch zu bemühen, mit dem Ablauf der Ereignisse Schritt zu halten. Dann taucht allmählich Klarblickwissen auf. Zunächst fällt einem auf, daß ständig neue Eindrücke erscheinen und die alten verdrängen. Man erkennt, daß das, was da entsteht, nur körperliche und geistige Phänomene sind. Wenn der zweite Schritt des Klarblickwissens erreicht ist, liegt das Hauptgewicht der Aufmerksamkeit auf der statischen Phase: Zuerst kommt ein Erlebnis, dann das nächste. Auf diese Weise wird das gegenseitige Aufeinanderberuhen von Geist und Körper aus der Beobachtung heraus verstanden. Beim ‚Wissen des Begreifens‘, schließlich, liegt der Schwerpunkt auf der letzten Phase des Prozesses. Es wird deutlich erkannt, daß ein Vorgang völlig verschwindet, bevor der nächste beginnt.

An diesem Punkt im Übungsverlauf ist das gegenwärtige Objekt in den drei Phasen des Entstehens, der Dauer und des Verlöschens untersucht worden. Der Übende hat sich davon überzeugt, daß bedingte Phänomene, die Objekte der Betrachtung, vergänglich, unbefriedigend und substanzlos sind. Auf der Basis dieser klaren Wahrnehmung der drei Merkmale arbeitet man nun auf die Befreiung hin, und taucht dabei immer tiefer in die Natur der Wirklichkeit, während Achtsamkeit, Konzentration und Weisheit ihrer Vollendung entgegengehen.

Die folgenden Schritte des Klarblicks zeigen eine zunehmende Veränderung in der Art, wie diese Wirklichkeit erlebt wird. Der Geist wird Schritt für Schritt freier von Anhaften und Unwissenheit, um sich schließlich von der bedingten Existenz abzuwenden und das Überweltliche zu erkennen.

4. Wissen vom Entstehen und Vergehen

Vorläufig beherrschen Vorstellungen jedoch immer noch den Geist, und die Hemmnisse, wie auch einige Phänomene, tauchen gelegentlich noch auf. Sie können die Konzentration aber nicht ablenken und lassen sich durch achtsames Noten kontrollieren. Dann wird es auf einmal einfach, dem Prozeß des Entstehens und Vergehens zu folgen. Die Achtsamkeit arbeitet gleichmäßig, aber doch genau und kraftvoll, ohne besondere Anstrengung. Die aufeinanderfolgenden Sinnesprozesse werden klar in ihrem Entstehen und Vergehen erkannt. Das bringt wiederum die drei Merkmale klar zu Bewußtsein. Dieser Schritt des Klarblicks heißt ‚Wissen vom Entstehen und Vergehen‘.

5. Wissen der Auflösung

Nun werden die Momente der Achtsamkeit beschleunigt. Man erkennt winzige Bruchteile von Prozessen. Dadurch fallen konventionelle Vorstellungen und Begriffe völlig weg. Das Heben und Senken der Bauchdecke scheint schneller zu werden. Man sieht nur noch ‚verschwinden, verschwinden‘. Vertrauen, Energie, Achtsamkeit und Konzentration gewinnen jetzt allmählich ein Gleichgewicht. Dadurch wird die Weisheit gestärkt. Dem Übenden wird klar, daß selbst die Momente der Achtsamkeit – das Bemerken – nichts weiter als bedingte Phänomene sind. Sie folgen den Ereignissen unmittelbar und verlöschen dann. Dies ist das fünfte Klarblickwissen, das ‚Wissen der Auflösung‘.

6. Wissen der Frucht

Das sechste Wissen heißt ‚Wissen der Frucht‘. Da man ständig der momentanen Auflösung körperlicher und geistiger Ereignisse gewahr ist, erkennt man, daß es in der Welt nichts Zuverlässiges gibt. Es gibt keine Zuflucht und keine Sicherheit. Das Leben brennt fort von Moment zu Moment wie Lunte.

7. Wissen des Elends

Danach folgt der siebte Klarblickschritt, das ‚Wissen des Elends‘. Für den Übenden hat alles die Lebenswärme verloren. Alle Objekte, alle Bewußtseinszustände sind wie eine abgestreifte Schlangenhaut. Die Schlange ist nicht zu finden. Nichts existiert wirklich, wie man es vorher immer annahm. Es gibt nur den Prozeß bedingter Phänomene, die den Naturgesetzen zufolge abrollen. Das alles ist fürchterlich bedrückend.

8. Wissen des Überdrußes

Der achte Klarblickschritt heißt ‚Wissen des Überdrusses‘. Man ist völlig ernüchtert hinsichtlich Körper und Geist, den fünf Aggregaten des Anhaftens. Man weiß ganz klar, daß es in ihnen kein Glück zu finden gibt. Diese Erkenntnis löst ein Gefühl von Müdigkeit aus, von Überdruß. Aber es gibt keine Alternative: Angesichts des ununterbrochenen Wechsels von Erlebnissen und ihrer Auflösung wächst die Überzeugung heran, daß nur ihr endgültiges Verlöschen wirkliches Glück bedeutet.

9. Wissen des Verlangens nach Befreiung

Deshalb entsteht allmählich eine Sehnsucht, befreit zu sein von diesem Prozeß des Zerbröckelns und das Verlöschen zu erreichen. Obwohl man weiter meditiert, wünscht man nur, dem Bann bedingter Existenz zu entkommen. Dies ist das ‚Wissen des Verlangens nach Befreiung‘, der neunte Klarblickschritt.

10. Wissen der Großen Bemühung

Als Reaktion auf das Verlangen nach Befreiung macht der Übende nun eine erneute Anstrengung in der Meditation. Wenn er die Übung des Bemerkens ernsthaft weiterführt, wird er am Ende dem Zustand des Leidens entrinnen. So erreicht er das ‚Wissen der Großen Bemühung‘, den zehnten Klarblickschritt. Da ist dann plötzlich wieder viel Energie und Entschlossenheit, die Entwicklung weiterzuführen. Die Meditation wird sehr ausgeglichen und lückenlos. Die drei Merkmale stehen immer im Vordergrund.

11. Wissen des Gleichmuts vor Gebilden

Der elfte Schritt des Klarblickwissens, der letzte zur sechsten Reinheitsstufe gehörende, ist das ‚Wissen des Gleichmuts vor Gebilden“. Gebilde bezieht sich hier auf die Erlebnisse der körperlichen und geistigen Phänomene, die uns dauernd umgeben. Die Meditation läuft jetzt wie von selbst. Der Übende fühlt sich losgelöst von Körper und Geist. Man kann lange sitzen, ohne sich zu bewegen. Man kennt keine Vorliebe, keine Sorge, keinen Überschwang. Wenn man die Aggregate des Anhaftens ergreift, entsteht bloß Unbefriedigung. Also bleibt der Geist frei davon. Alle Erlebnisse werden mit großer Klarheit registriert.

Dies ist die Erfüllung der ‚Reinheit der Klaren Schau des Übungsverlaufs‘.

VII. Reinheit der Klaren Schau

Während des Übungsverlaufs hat die Konzentration ständig zugenommen. Inzwischen hat sie schon die Stärke der Vertiefung erreicht. Sie ist aber weiterhin auf die wechselhaften Sinneseindrücke gerichtet, die auf Körper und Geist einwirken. Der Geist ist währenddessen unverrückbar auf das gegenwärtige Objekt eingestellt. Es geht nicht mehr verloren. Der Übende betrachtet die drei Merkmale anhand der Auflösung der Daseinsgebilde von Moment zu Moment.

Die nun folgenden Schritte des Klarblicks treten auf in rascher Abfolge, ohne die geringste Verzögerung. So wie beim Einschalten einer Lampe die Bewegung des Schalters, der Stromfluß, das Aufleuchten der Birne, die Wahrnehmung des Lichts und das Erkennen dieser Wahrnehmung ohne Verzögerung geschehen, so geht es auch mit dem Aufblitzen überweltlicher Weisheit.

Wenn das ‚Wissen des Gleichmuts vor Gebilden‘ stark wird, erreicht der Übende den Höhepunkt des Klarblickwissens, den ‚Klarblick, der zum Entrinnen führt‘. Im Zuge des Bemerkens wird eines der drei Merkmale besonders deutlich wahrgenommen. Mit dem Erscheinen des ‚Klarblicks, der zum Entrinnen führt‘ wird dieses Merkmal wiederholt mit solcher Klarheit erkannt, daß alle besonderen Merkmale des Objekts verblassen.

12. Wissen der Anpassung

Übereinstimmung mit den Vier Edlen Wahrheiten


Hier beginnt der Bewußtseinsprozeß des Edlen Pfades. Bis hierher handelt es sich noch um weltliche Weisheit. Der Geist hat aufgrund seiner Hinwendung die ständig wechselnden Gebilde zum Objekt der Betrachtung. Durch die lebhafte Wahrnehmung der drei Merkmale gewinnt er nun die Kraft, sich abzuwenden von den auftauchenden und verschwindenden Ereignissen, um ihr völliges Verlöschen zu erkennen. Das ‚Wissen der Anpassung‘ ist die eigentliche angrenzende Sammlung in der Klarblick Meditation. Die Erkenntnis stimmt hier mit den Vier Edlen Wahrheiten überein. Dieses Wissen faßt den gesamten Übungsverlauf der sechsten Reinheitsstufe zusammen, und sammelt die gebündelte Kraft der Betrachtung, die in den zurückliegenden Wissensschritten, dem sogenannten Vorbereitenden Pfad, angesammelt wurde. Der Geist ist nun bereit, einige der Fesseln, die ihn an bedingte Existenz binden, abzustreifen.

13. Reifewissen – Wechsel der Zugehöhrigkeit

Dieses Wissen gehört auch zum Bewußtseinsprozeß des Edlen Pfades, und es erscheint unmittelbar nach dem ‚Wissen der Anpassung‘. Seine Aufgabe ist es, den Übergang herzustellen zum völligen Verlöschen aller Daseinsgebilde. Nibbana ist hier das Objekt des Geistes, und die Konzentration ist auf Vertiefungsstärke angewachsen. Das ‚Wissen der Reife‘ markiert den Übergang von weltlichem zu überweltlichem Geist. Beim Individuum sprechen wir von der Wandlung vom Weltling zum Edlen Menschen.

14. Pfadwissen

Dies ist der Moment wo überweltliche Weisheit erlebt wird. Der Geist ist vertieft in die Abwesenheit von Daseinsgebilden und erfährt so, durch unmittelbare Berührung, die ungeschaffene, ungeborene Wirklichkeit des Verlöschens. Die vereinte Kraft der acht voll entwickelten Pfadglieder zertrennt die Fessel der falschen Ansicht des Selbst, die Fessel des Zweifels über die Wahrheit und die Fessel des Glaubens an die Wirksamkeit von Ritualen zum Erreichen von Reinheit, Weisheit und Befreiung. Diese Fesseln haben von nun an keine Macht mehr über den Geist. Deshalb wird dieser Mensch jetzt ein Edler Mensch genannt. Er ist in den Strom, der zur Befreiung führt, eingetreten. Der Moment des Pfadbewußtseins, das nur einen Sekundenbruchteil dauert, heißt der ‚Einzelne Bewußtseinsmoment des Edlen Pfades‘.

15. Fruchtwissen

Für zwei oder drei Momente verharrt der überweltliche Geist im Verlöschen aller Gebilde, vertieft in Nibbana als Objekt.

16. Wissen des Rückblicks

Für den Übenden erscheinen die Wissenschritte zwölf bis fünfzehn als ein einziger Akt des Bemerkens. Ist der Geist wieder auf die weltliche Ebene zurückgekehrt, wird das Geschehene überblickt. Man kann sich erinnern, daß eines der drei Merkmale mit überragender Klarheit in einer raschen Folge des Bemerkens wahrgenommen wurde. Danach brachen alle Eindrücke für einen Moment ab. Der Gedanke: ‚Was war das denn?‘ ist das ‚Wissen des Rückblicks‘.

Zum Beschluß

Die Entwicklung des Geistes, wie sie von Buddha gelehrt wurde, hat nur mit der Übung der Klarblick Meditation (Vipassana) zu tun. Durch die beständige Hinwendung auf den gegenwärtigen Moment, in dem Bemühen, ihn klar zu erfassen, wird der Geist von falschen Ansichten und der Verhaftung in weltlichen Bedingungen befreit. Die Auflistung der acht Bestandteile des Achtfachen Pfades setzt jedesmal die Klassifikation ‚recht‘ oder ‚richtig‘ dazu. Soweit die Klarblick Meditation davon betroffen ist, bedeutet dies, daß die Geisteskräfte, die Pfadglieder heißen, auf den gegenwärtigen Moment gerichtet sein müßen. Rechte Rede besteht in der Übung des Bemerkens und Benennens eines jeden Objektes, soblad es erlebt wird. Rechtes Handeln besteht in der Hinwendung des Geistes auf die Gegenwart. Rechter Lebenserwerb besteht in der gesunden Ernährung des Geistes durch die Überwindung der Hemmnisse, sodaß unheilsame Bewußtseinskräfte nicht mehr Fuß fassen können. Rechte Anstrengung liegt in dem Bemühen, sich von Anhaften zu befreien, den Klammergriff des Festhaltens zu lockern. Rechte Achtsamkeit betrachtet das jeweilige Objekt in seinem Entstehen und Vergehen. Rechte Konzentration ist momentane Konzentration, die den Geist auf den Fluß der wechselnden Ereignisse richtet. Rechtes Denken besteht im Erkennen der drei Merkmale, die nur über das gegenwärtige Objekt wahrgenommen werden können. Rechtes Verständnis ist das korrekte Wissen der wahren Natur bedingter Phänomene und führt zur Erkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten. Wenn der Achtfache Pfad völlig entwickelt ist, dann erlebt man selbst, daß alles, was entsteht, auch dem Verlöschen unterworfen ist, und daß es nichts weiter als Leiden ist, was da verlöscht. Das Verlöschen des Leidens ist der Inbegriff echten und dauernden Glücks.

Während des Übungsverlaufs gibt es einige Schritte der Klarblickweisheit – die Wissensschritte der Frucht, des Elends, des Überdrusses – die auf jemanden, der ohne entsprechende Meditationserfahrung darüber hört, vielleicht abschreckend wirken können. Hierzu muß man wissen, daß die Gefühle von Furcht oder Elend, um die es sich hier handelt, gründlich verschieden sind von den gewöhnlichen Gefühlen. In der Klarblick Meditation werden sie nicht von Anhaften am Körper oder dem Verlangen nach Genuß verursacht. Im Gegenteil: Anstelle von Verblendung und Anhaften ist die Ursache dieser Erlebnisse in der lebhaften Wahrnehmung der Wirklichkeit mit Weisheit zu sehen. Konzentration und Achsamkeit haben hier ein hohes Niveau erreicht. Daher werden die Erlebnisse von Furcht oder die Wahrnehmung des Elends vom Meditierenden nicht als Objekte der Identifikation aufgefaßt. Man erkennt unmißverständlich, daß kein eigenständiges Selbst an dem Prozeß beteiligt ist. Es handelt sich hier nur um die weisheitsvolle Erkenntnis der drei Merkmale, die die furchteinflößende Unsicherheit von Geist und Körper und das Elend der Abhängigkeit von wechselhaften Bedingungen deutlich vor Augen führen. Der Meditierende weiß, daß seine Erkenntnis für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen gültig ist. Er hat grüblerisches Zweifeln hinter sich gelassen, er kennt den korrekten Weg geistiger Entwicklung, und er hat Vertrauen in die Weisheit Buddhas gefaßt. Daher wird er zuversichtlich weitergehen und schließlich die nötige Willenskraft aufbringen, um die Entwicklung bis ans Ziel fortzusetzen.

Die Verwirklichung von geistiger Reinheit und meditativem Klarblick durch Entfaltung der Achtsamkeit ist der Weg zur Befreiung, der von aufeinanderfolgenden Buddhas immer wieder neu entdeckt und gelehrt wird. Zahllose Schüler sind diesem Weg gefolgt und haben so dem Leiden ein Ende bereitet. Das ist heute weiterhin möglich. Die Natur der Wirklichkeit ist allezeit um uns. Wir können sie erkennen, wenn wir unseren Geist entwickeln, und diese Erkenntnis wird auch uns befreien.

Wer also die Stufen der Reinheit erreichen und Weisheit heranbilden möchte, sollte jede Gelegenheit wahrnehmen, Klarblick Meditation zu üben und die Vier Grundlagen der Achtsamkeit zu entwickeln. Man möge den Rat erfahrener Meditierer suchen, um sich mit den Einzelheiten der Übung bekannt zu machen und bald konkrete Ergebnisse zu erzielen. Man möge sich mit Gleichgesinnten im Gespräch und in der Übung zusammentun und sich gegenseitig in der Bemühung unterstützen. So wird die Buddhalehre, die Lehre der Wahrheit, auch in unserer Zeit eine weite Verbreitung erfahren, wie es in der Vergangenheit viele Jahrhunderte lang war.